Wir sind auf Tripadvisor auf den SlumWalk in Delhi aufmerksam geworden. Wir hatten uns schon lange vor der Reise einmal darüber unterhalten, ob man solch ein Angebot wahrnehmen soll: Ist das sensationslüsternes Begaffen von Armut oder Interesse und Teilnahme am Leben der Menschen, die üblicherweise gerne übersehen werden von den Reisenden der Welt? Wir sind beide der Meinung, dass das letztere zutreffend ist. Die Gebühren für den Slumwalk kommen zu 85% den Menschen vor Ort zugute, und die Beurteilungen erzählten von menschlicher Nähe und respektvollem Umgang. Die vielen Bewertungen gaben uns die Illusion, wir könnten abschätzen, was da auf uns zukommen würde. Wie so oft in Indien schlug die Realität mal wieder unbarmherzig zu. Aber fangen wir von vorne an.
Treffpunkt ist ein Ausgang der Metrostation Shadipur. Sie gehört zur ultramodernen Schnellbahn zum internationalen Flughafen mit Haltepunkten, deren Modernität man in Deutschland selten sieht. Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt trafen wir Lakshmi (links) .
Sie hat uns von Anfang an beeindruckt durch ihre starke Ausstrahlung. Wie sich später noch zeigen sollte, ist sie der Hoffungsschimmer so vieler Menschen im Slum und die gute Seele des Viertels. Sie hat kaum Schulbildung genossen, wurde mit 14 Jahren verheiratet, hat mit 15 die erste Tochter bekommen und hat sich im Laufe der Jahre so viel Wissen selber angeeignet, dass sie heute die Kinder in Englisch unterrichtet. Wie gesagt: eine tolle Frau, deren Lebensleistung ich zutiefst bewundere. Lakshmi empfing uns mit den Worten: „Sie haben vor ein paar Tagen alles zerstört. Alles ist kaputt!“ Wir haben das zunächst nicht verstanden, denn die Straßen, durch die wir gingen waren intakt und gesäumt von einfachen Steinhäusern. Sie schloß dann eine Tür zu einem kleinen Raum auf, der als Schule dient. Der wurde sofort von herbeiströmenden Kindern gefüllt, die uns stolz zeigten, was sie können: Rechnen, englisch sprechen und tanzen. Der gute alte Michael Jackson steht immer noch hoch im Kurs. Dieser Junge hier konnte der Moonwalk beeindruckend nachmachen.
Generell war die Unterhaltung mit den Kindern total unkompliziert, fröhlich und hat beiden Seiten Spaß gemacht. Umso unverständlicher waren mir die Sätze von Lakshmi, die ich überhaupt nicht einordnen konnte. Wo war denn etwas zerstört? Nach einer Weile gingen wir weiter durch das Viertel und als wir um eine Ecke bogen, zeigte sich das, wovon Lakshmi die ganze Zeit gesprochen hatte, in unvermittelter Brutalität:
In den ersten Momenten waren wir wie paralysiert von der Szenerie des Schreckens. Die Eindrücke waren so stark, dass ich erst einmal nur Leere spürte. Menschen sitzen auf den Trümmern ihrer Häuser mit nichts mehr im Besitz, als den Dingen, die sie am Leib tragen. Wer Glück hatte, konnte noch ein paar Habseligkeiten retten, ehe die Bulldozer alles platt gemacht hatten.
In aller Kürze die Hintergründe: Kathputly Colony war der größte der insgesamt 38 Slums von Delhi. In den 60er Jahren haben hier die ersten Menschen gesiedelt. Zuerst in Zelten, nach und nach wurden Steinhäuser errichtet, die meisten ohne fließend Wasser und Strom. Das Areal gehört der Stadt Delhi und ihr könnt Euch denken, was nun kommt: Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Grundstücke immer wertvoller. Das veranlasste die Stadt, hier eine Neuplanung vorzunehmen: Temporär sollten die Bewohner umgesiedelt werden, um dann in neue Wohnungen zurückzukehren, die die Stadt gemeinsam mit einem privaten Projektentwickler bereitstellen würde. Die Proteste und das Misstrauen dagegen waren von Anfang an sehr groß. Wer die gesamte Geschichte nachlesen will, kann das hier tun. Es werden wohl nur einem Teil der insgesamt 30.000 Bewohner neue Wohnungen angeboten, außerdem wollten die wenigsten ihr Viertel verlassen. Die Kathputly Colony war zur Heimat von Kunsthandwerkern und Magiern geworden, die teilweise in der ganzen Welt aufgetreten sind.
Zurück zur Gegenwart: Da standen wir nun also inmitten der Katastrophe – zwei Wohlstandsbürger aus Europa – und fühlten uns wie auf einem anderen Planeten ausgesetzt. Die Menschen, die uns entdeckt haben, kamen sofort auf uns zu und erzählten uns die Geschichte: mit Würde und Stolz, dem Mitleid nicht gerecht wird. Ein Mann bat uns dann in eine der noch stehenden Ruinen, die wie ein alter Zahn im Kiefer eines Greises aus dem Schutt herausragte. Er sagte uns: „Bitte nehmt Platz, ich gebe Euch eine Vorstellung von meinem Zaubertricks.“ Wieder gesellten sich Kinder zu uns und glaubt es mir oder nicht – aber wir waren in den Bann der Vorstellung gerissen. Der Magier ließ Gegenstände verschwinden, zauberte auf einmal eine Münze in die Hand von Andreas, die vorher nicht da war – ihr kennt diese Kunststücke sicher aus dem Fernsehen oder aus Shows. Am Ende haben wir dann schüchtern gefragt, ob wir Eintritt bezahlen dürften – für die gute Unterhaltung. Im Gegensatz zu den vielen Bettlern und den aufdringlichen Händern anderswo herrschte hier eine offene und – ich sage es noch einmal – würdige Atmosphäre. Ja, hört sich komisch an, aber diese Menschen waren zu stolz und sich ihres Könnens zu sehr bewusst, um zu betteln oder Mitleid erregen zu wollen.
Wieder draußen in der Steinwüste konnten wir die Eindrücke kaum fassen.
Zwei Kinder – etwa 5 und 7 Jahre alt – wuschen ein Kleinkind mit Wasser aus einem kleinen Eimer. Lakshmi sah, wohin ich schaute und erklärte mir: „Hier werden die Kinder schon früh zur Verantwortung für die Geschwister erzogen. Die Mutter ist den ganzen Tag unterwegs, um im Müll der Großstadt nach Verwertbarem zu suchen.“ Übrigens: die hypermoderne Schnellbahnstrecke verläuft direkt an der Kathputli Colony. Aufmerksame Beobachter im Zug können das zerstörte Viertel sehen.
Die Menschen, mit denen wir sprachen haben uns direkt aufgefordert, sie zu fotografieren und ihre Geschichte zu erzählen. Deshalb hier ausnahmsweise die Gesichter erkennbar.
Diese Frau hier erzählte uns, sie habe sich den Bulldozern entgegengestellt, damit die anderen Bewohner Zeit hatten, das Nötigste aus den Häusern zu räumen. Sie wurde mit Tränengas besprüht und von den Maschinen verletzt. Ich finde, das Foto zeigt sehr gut, welche Stärke auch diese Frau ausstrahlt. Später kam mir bei der Erinnerung an diese Frau wieder der Spruch des Mannes aus Udaipur in den Sinn: „Wir Hindus sind auf wohlhabende Menschen nicht eifersüchtig, denn sie haben es sich in einem früheren Leben verdient.“ Der pure Zynismus und auch unwahr, wie die Meinungen der Menschen hier sehr wohl zeigten.
Viele Bewohner wollten Ihre Häuser aus den Trümmern wieder aufbauen – aus meiner Sicht von außen und ohne Kenntnis der Details ein aussichtsloses Unterfangen.
Nach etwa drei Stunden war der Rundgang dann beendet und wir haben Momente erlebt, die wir wohl für den Rest des Lebens in uns tragen werden. Fühlten wir uns fehl am Platze? Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: alle Menschen, die wir getroffen haben, haben uns ihre Geschichte erzählt. Froh, dass jemand zuhört und sich interessiert. Und wir wurden immer wieder gebeten: Erzählt von uns, ladet die Leute ein, zu uns zu kommen. Wir wollen nicht ignoriert werden.
Hiermit habe ich nun meinen kleinen Beitrag geleistet, dass die Geschichte der Kathputli Colony nicht vergessen wird.